Das notarielle Nachlassverzeichnis gibt dem Pflichtteilsberechtigten Sicherheit
Enterbt – und was nun? Um als Pflichtteilsberechtigter sicher sein zu können, dass der Nachlass vom Erben nicht geschmälert angegeben wird, kann dieser ein notariell angelegtes Verzeichnis über das Erbe verlangen.
Meistens trifft es Kinder beim Tod des erstversterbenden Elternteils (erster Erbfall) oder ungeliebte Kinder aus erster Ehe bzw. aus einer nichtehelichen Beziehung (Patchwork-Situation). Zumindest gewährt das Gesetz in diesem Fall den Übergangenen einen Pflichtteil.
Dieser Pflichtteil ist ein reiner Geldanspruch. Er richtet sich gegen den oder die Erben. Die Höhe der Forderung richtet sich nach dem Wert des hälftigen gesetzlichen Erbteils.
Beispiel: Der Erblasser war im gesetzlichen Güterstand verheiratet. Er hinterlässt seine Ehefrau und zwei Kinder. Sein Nettonachlass (nach Abzug der Schulden) beläuft sich auf 400.000 Euro.
Der gesetzliche (erhöhte) Erbteil der Ehefrau beträgt ½, die Kinder teilen sich die andere Hälfte. Ihr gesetzlicher Erbteil beträgt ¼. Der Wert des gesetzlichen Erbteils der Ehefrau beträgt 200.000 Euro, ihr Pflichtteil liegt also bei 100.000 Euro. Bei den Kindern ist der Pflichtteil die Hälfte vom Wert ihres Erbteils in Höhe von 100.000 Euro, beträgt also 50.000 Euro.
Die Angaben zum Nachlass müssen wahrheitsgemäß erfolgen
Die große Frage für den Pflichtteilsberechtigten ist: Wie erfahre ich, wie hoch der Wert des Nachlasses überhaupt ist? Das Gesetz gibt die Antwort: Der Erbe muss die notwendigen Auskünfte erteilen, wenn der Pflichtteilsberechtigte ihn dazu auffordert. Er muss dazu ein Verzeichnis über alle Vermögenspositionen und über alle Schulden des Nachlasses vorlegen – einschließlich früherer Schenkungen. Der Wert der Gegenstände wird dann durch das Wertgutachten eines Sachverständigen ermittelt – auch nur dann, wenn die Begutachtung verlangt wird.
Nicht selten ist der Erbe mit der Erstellung des Verzeichnisses überfordert – oder er „übersieht“ wertvollen Nachlass und verschweigt ihn. Mit einer zweifelhaften Auskunft muss der Pflichtteilsberechtigte sich nicht begnügen. Er kann in diesem Fall – aber auch sofort – ein Verzeichnis verlangen, das von einem Notar erstellt wird.
Bei Zweifel an den Angaben einen Notar hinzuziehen
Dieses amtliche Verzeichnis ist inzwischen der „Renner“ geworden. Denn der Notar weiß, worauf es ankommt und seine – nicht unerheblichen Kosten – werden vom Nachlass beglichen.
Im letzten Jahrzehnt und bis heute hat die Rechtsprechung durch zahlreiche Urteile bestimmt, was der Notar beachten muss, wenn er das Verzeichnis erstellt. Der wichtigste Gesichtspunkt: Der Notar darf nicht lediglich die Angaben des Erben „protokollieren“. Er ist verpflichtet, eigene Ermittlungen anzustellen.
Ebenso wichtig: Der Notar muss alle Ermittlungen anstellen, die ein vernünftiger Pflichtteilsberechtigter für erforderlich hält. Die Formel in den Urteilen lautet wörtlich: „Der Notar hat diejenigen Nachforschungen anzustellen, die ein objektiver Dritter in der Lage des Gläubigers für erforderlich halten würde“.
Der Notar muss daher den Erben und dritte Personen nach naheliegenden Umständen befragen, muss Auskünfte bei Banken einholen (auch bei ausländischen Banken – Bundesgerichtshof, Urteil vom 20. Mai 2020, Aktenzeichen IV ZR 193/19). Er muss die Wohnung oder das Haus des verstorbenen Erblassers aufsuchen, um sich persönlich ein Bild von den vorhandenen Gegenständen (Möbel, Auto, Hausrat, Wäsche, Teppiche, Gemälde etc.) zu verschaffen.
Seine Erkenntnisse muss der Notar in einem systematischen Verzeichnis niederlegen, in dem er die Gegenstände so genau bezeichnet, dass ihr Wert auch ermittelt werden kann. Beispielsweise muss der Notar beim hinterlassenen Ehering den Goldgehalt angeben.
Ein solches Verzeichnis hilft dem Pflichtteilsberechtigten viel. Es ist die Grundlage für die weiteren Schritte. Sind wertvolle Gegenstände vorhanden, wird der Pflichtteilsberechtigte vom Erben Wertgutachten verlangen – ebenfalls auf Kosten des Nachlasses. Sind die Auskünfte vollständig und wahrheitsgemäß erteilt, die Werte ermittelt, kann er der Wert des Nachlasses und damit die Höhe seines Pflichtteils berechnen, beziffern und ihn verlangen.
Mit den geschärften Anforderungen an den Notar erhält der Pflichtteilsberechtigte also endlich eine taugliche Grundlage. Schludrigkeiten, Bequemlichkeiten und Oberflächlichkeiten beim Verzeichnis verzeiht die Rechtsprechung dem Notar nicht (mehr).
Ein gründliches Verzeichnis verlängert das Verfahren
Die andere Seite der Medaille: Die gehäufte Inanspruchnahme des Notars und die verschärfte Ermittlungspflicht verlängert den Ermittlungs- und Aufnahmeprozess des Notars. So sind jetzt Verfahrensdauern von mehr als einem Jahr leider keine Seltenheit mehr. Aber: Lieber ein gutes Verzeichnis nach einem Jahr als ein schlechtes nach drei Monaten.
In all den komplizierten und kompliziertesten Fragen des komplizierten Pflichtteilsrechts ist der enterbte Pflichtteilsberechtigte beim Fachanwalt für Erbrecht gut aufgehoben. Der macht seine Ansprüche sachkundig, zügig und richtig geltend. Je früher, desto besser.